In einem Wald mit Berg und Tal, mit Busch und Bach und hohen Bäumen lebten drei Rabenbrüder. Im Frühling waren sie einer nach dem anderen aus dem Ei geschlüpft. Bald hatten sie ihr Nest hoch oben in einem Baum unternehmungslustig verlassen. Unermüdlich übten sie ihre Flugkünste. Sie spielten mit dem Wind, ließen sich aufwärtstragen und wieder fallen und überboten sich gegenseitig übermütig mit immer tolleren Kunststücken.
Aber das war nicht alles, was sie konnten! Der älteste Rabenbruder hatte besonders scharfe Augen und entdeckte jeden Leckerbissen selbst aus größter Höhe. Der mittlere hatte ein so feines Gehör, dass man nur staunen konnte. Wenn die drei damit beschäftigt waren, sich laut krächzend um die gerechte Aufteilung eines köstlichen Appetithappens zu zanken, nahm er trotzdem jedes noch so leise Geräusch in ihrer Nähe wahr. Zum Beispiel das hastig klopfende Herz des Vogelfängers, wenn er gut versteckt sein Netz zum Wurf bereit machte. Oder das sachte Auftreten der wilden Katze, die sich fast unhörbar im tiefen Gras anschlich. Nie erwischte sie einen der Raben, denn immer wenn sie sich gerade duckte und zum Sprung ansetzen wollte, flatterten die drei schon auf, jeder mit seinem Teil der leckeren Beute im Schnabel. Pfeilschnell und geschickt landeten sie hoch oben auf einem sicheren Ast. Da turnten sie dann albern herum und machten sich kicherkrächzend über die enttäuschte Wildkatze lustig, die mal wieder beschämt und unverrichteter Dinge abziehen musste.
Ja, die drei Rabenbrüder hielten zusammen und sie fanden das Rabenleben sehr lustig. Nur der jüngste saß manchmal mit hängendem Kopf ein bisschen abseits und starrte trübsinnig vor sich hin. Warum bloß konnte nur er nichts Besonderes, womit er seine Brüder hätte beeindrucken können? Eigentlich brauchten sie ihn gar nicht. Bei diesem Gedanken tropfte schon mal eine dicke Rabenträne an seinem Schnabel herunter. Das Einzige, was er besser konnte als sie, war singen. Aber wem nützte das denn, und überhaupt, was hieß schon besser! Raben sangen ja gar nicht! Das war nun wirklich nicht Rabenart. Und wenn er mal wieder verträumt vor sich hin trällerte, weil ihm gerade das Lied einer Amsel so gut gefallen hatte, dann fielen seine Brüder vor Lachen fast vom Baum! Also lauschte er meist nur sehnsüchtig dem fröhlichen Konzert der anderen Vögel. Oft stieg ihm dabei das Singen in der Kehle hoch, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Aber wenn sich sein Schnabel schon öffnete, um seine dunkle Rabenstimme mit dem hellen Zwitschern und Pfeifen zu vereinen, schaffte er es meistens gerade noch rechtzeitig, ihn wieder zu schließen und die Töne mit Mühe herunterzuschlucken. Dann wurde sein Hals ganz eng, und es fühlte sich so an, als rumorten all die nicht gesungenen Töne unglücklich und halb erstickt in seinem Bauch wie gefangene Vögel in einem viel zu engen, dunklen Sack.
Auf den Frühling folgte der Sommer und dann der Herbst. Kalter Wind pustete den drei Raben mit jedem Tag ungemütlicher durch die Federn. Es wurde immer schwieriger, etwas Essbares aufzutreiben, um sich damit den Rabenbauch zu füllen. Das Leben war nun gar nicht mehr so lustig. Eines Nachts stürmte es besonders heftig. Ihr Schlafbaum wurde richtig durchgeschüttelt. Er bog sich schrecklich und knirschte und knackte bedrohlich. Auf und ab und hin und her schwankte der Ast, auf dem sie saßen. Die Rabenbrüder klammerten sich angstvoll an ihm fest und rückten erschöpft und durchgefroren so eng wie möglich aneinander. Trotzdem konnte keiner von ihnen schlafen. Der Sturmwind brüllte und brauste durch die hohen Bäume. Trockene Blätter und abgerissene Aststücke flogen ihnen um die Ohren und dicke, schwarze Wolken türmten sich vor dem Mond auf. Es war stockfinster. »Meine Augen! Ich sehe nichts!«, schrie der älteste Bruder. »Meine Ohren! Ich höre nur Getöse!«, wimmerte der mittlere.
Aber der jüngste Rabenbruder spürte plötzlich, wie das wilde Rütteln und Schütteln seine Kehle weitete. Alle ungesungenen Töne stiegen auf und drangen befreit aus seinem Schnabel. »Meine Stimme! Ich singe!«, jubelte er. Verwundert unterbrachen die anderen beiden ihr Jammern und starrten ihn an, so dass er beinahe schon wieder verstummen wollte. »Sing weiter!«, bettelten sie, und er konnte auch gar nicht anders. Die Töne schlüpften dunkel und warm aus seiner Kehle. Sie mischten sich fröhlich in das Brausen des Sturms, spielten mit dem Wind, ließen sich aufwärtstragen und wieder fallen und überboten sich gegenseitig übermütig mit immer tolleren Kunststücken. Den drei Rabenbrüdern war es, als flögen sie mit, tollkühn und schwerelos, hoch und höher, über dem Wald, über den Wolken. Das Sturmgetöse ließen sie zurück. Um sie war nur noch schwebende Weite und Stille.
Sie atmeten tief und ruhig.
Sie schliefen.
© Christiane Wilke 2016